Dienstag, 30. Oktober 2012

Deutschland – die industrielle Agrarweltmacht

Es ist doch alles eigentlich ganz einfach: "Die Landwirtschaft hat die Aufgabe, die Stoffe und Kräfte des Bodens und der atmosphärischen Luft zu benutzen, ihre meist unorganischen Formen in organische zu verwandeln, Pflanzen und Tiere zu erzeugen, welche zur Befriedigung mannigfaltiger menschlicher Bedürfnisse dienen." So lautet der erste Satz von Johann Adam Schlipfs populärem "Handbuch der Landwirtschaft", 13. Auflage, 1898. Man muss sich den Satz als eherne Wahrheit in Frakturschrift gesetzt vorstellen. Ohne Landwirtschaft ist alles nichts. Sie ist eine Grundbedingung menschlicher Existenz. Ihr nächster Nachbar im biologischen Wurzelwerk der Zivilisation ist die Sexualität. Wie diese sichert sie das physische Überleben der Art, wie sie ist sie ebenso selbstverständlich wie Konflikt beladen, Quelle von Genuss und Lebensglück, aber auch gefährlich nahe an Gewalt, Ausbeutung und Krankheit, ein Sakrament und manchmal ein Verbrechen, eine Sache intimer Körperlichkeit und ein öffentliches Faszinosum erster Güte.

Der neueste Dioxinskandal, der sich in eine lange Kette ähnlicher Lebensmittelskandale einreiht, rückt wieder einmal die Nachtseite der Landwirtschaft ins öffentliche Bewusstsein, das sich gerade darauf eingestellt hatte, sich ganz und gar auf ihre genussvolle Lichtseite einzulassen und sie in Kochshows zu feiern. Jetzt vergeht dem Verbraucher die Freude am Frühstücksei. Die Medien überbieten sich im Verdammen der industriellen Agrarproduktion. Die Bauern und ihre Interessenvertreter kämpfen verzweifelt darum, den Vertrauensverlust einzudämmen. Die Marktanteile des Bio-Sektors werden noch ein Stückchen wachsen. Aber wenn die Wellen der Erregung sich gelegt haben, wird man ernüchtert feststellen, dass, wie beim Sex, der Rückweg in den Stand der Unschuld versperrt und das Wort "Agrarwende" leichter ausgesprochen als wirtschaftlich, politisch und kulturell ausbuchstabiert ist.
Die Landwirtschaft produziert auch immaterielle Güter


Welche Landwirtschaft wollen wir? Ein Blick auf die Geschichte mit ihren Hungersnöten, Seuchen und Kriegen um Brot und Boden sollte eigentlich davor bewahren, einen Zustand des permanenten Überflusses und marginaler Gesundheitsrisiken durch Nahrungsmittel für die Hölle auf Erden zu halten. Aber die Landwirtschaft produziert nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Güter. Sie hat ihre Aufgabe noch lange nicht erfüllt, wenn sie die Menschen satt, immer gesünder und immer langlebiger macht.

In wenigen Tagen eröffnet in Berlin wieder die Grüne Woche. Die Leistungsschau der Agrarwirtschaft zieht Hunderttausende an. Die ganze Welt erscheint hier verdichtet als kulinarischer Erlebnispark. In der Tierhalle ist in diesem Jahr eine Sonderschau dem Limpurger Rind gewidmet, der ältesten Rinderrasse Württembergs. Vor 25 Jahren gab es nur noch Restbestände dieses Schlages, der aus einer anderen agrargeschichtlichen Epoche stammt, in der eine Kuh gleichermaßen Milch, Fleisch und Arbeitskraft zu liefern hatte. Ein Erhaltungsprogramm hat die Rasse und damit altes Kulturerbe gerettet. Gleichzeitig wurde damit auch Zukunft gewonnen, denn das genetische Potenzial alter Haustierrassen braucht man als Reserve in der Hochleistungszucht. So sieht sich die deutsche Landwirtschaft gern: traditionsbewusst und regional verwurzelt, aber auch fortschrittsfroh und unternehmerisch dem Weltmarkt zugewandt. Die gemütvollen gelbbraunen Limpurger ahnen nichts davon, welche Mühe es dem Deutschen Bauernverband macht, die Interessenkonflikte zu moderieren, die sich hinter diesem Doppelgesicht der Landwirtschaft verbergen, Konflikte zwischen dem Norden und dem Süden, zwischen Familien- und Großbetrieben, Pflanzen- und Tierproduzenten, zwischen der Rolle des heimatlichen Landschaftspflegers und der des Global Players.

Vision von der agrarwirtschaftlichen Weltmacht

Vor einigen Monaten sorgte der indische Ökonom Arun Gairola für Irritation. Er empfahl Deutschland, sich künftig als Agrarland zu verstehen. Es stimme nämlich nicht, dass das Land arm an Bodenschätzen sei. Über den wichtigsten des 21. Jahrhunderts, das Wasser, verfüge es im Überfluss. Hinzu kämen günstiges Klima und reiche Böden: optimale Voraussetzungen dafür, zur agrarwirtschaftlichen Weltmacht zu werden. Man müsse das Wasser nur in anderen Aggregatszuständen, also als Getreide, Fleisch und Gemüse, dorthin exportieren, wo Wassermangel herrscht. Fehlte es Deutschland am intellektuellen Potenzial für einen solchen Paradigmenwechsel, wüsste er, wo es zu finden wäre, zum Beispiel in Indien. Durch Welten getrennt von dieser Vision ist die exportstarke deutsche Landwirtschaft mitnichten. Es ist im Bewusstsein der Deutschen nur noch nicht angekommen, dass sie alles andere als ein rückwärtsgewandtes, fast schon museales Gewerbe ist. Gerade die Städter klammern sich ja an das Gegenbild dörflicher Bodenständigkeit.

Und sie haben damit, das ist die andere Seite der Medaille, auch gar nicht so unrecht. Das Bedürfnis, sich aus dem eigenen Land, der eigenen Region zu ernähren, ist legitim, es ist ökologisch sinnvoll, und es zeugt im besten Falle auch von einem Stand kultureller Bildung, auf dem es nicht mehr akzeptabel ist, Nahrungsmittel einfach bewusstlos zu konsumieren. Essen macht nicht nur satt, es stiftet auch Identität, und es kann soziale und ökologische Verantwortlichkeit ausdrücken. Wer sich von diesem Standpunkt der Frage nach der Zukunft der Landwirtschaft nähert, wird in den Reformvorstellungen des EU-Agrarkommissars Dacian Ciolos manchen Richtung weisenden Gedanken finden, auch wenn sein Plan für die gemeinsame Agrarpolitik von 2014 an noch ziemlich vage ist. Er will die flächenbezogenen Direktsubventionen stärker an ökologische Auflagen knüpfen, die Zahlungen für Großbetriebe deckeln und den Anteil, der aus dem Brüsseler 60-Milliarden-Agrartopf in die osteuropäischen Mitgliedsländer fließt, vergrößern.

Die in weiten Teilen Europas kleinräumige Landwirtschaft soll erhalten bleiben, das Veröden ländlicher Regionen nicht hingenommen werden. Frankreich und Deutschland, Agrarweltmächte schon heute, stellen sich quer. Im Verteilungskampf haben sie eine starke Position. Aber man muss nicht Romantiker sein, um es unerträglich zu finden, dass um die Zukunft der Landwirtschaft wieder einmal nur nach den brachialen Regeln der üblichen Verteilungskämpfe gerungen wird. Denn sie ist beides: ein immer wichtiger werdender Zukunftspfad und unser Anker in Herkunft und Tradition.

Es ist im Bewusstsein der Deutschen nicht angekommen, dass die Landwirtschaft alles andere als ein rückständiges, fast schon museales Gewerbe ist
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